Oscar Pistorius aus Haft entlassen: Die Tragödie einer Nation - WELT (2025)

Oscar Pistorius aus Haft entlassen: Die Tragödie einer Nation - WELT (1)

Als Paralympics-Held erinnerte Oscar Pistorius die Südafrikaner einst an ihre Ideale. Dann erschoss der Superstar seine Freundin und stand weltweit für die Abgründe des Landes. Nun ist er auf Bewährung aus der Haft entlassen worden. Die Behörden versuchen, das nächste Medienspektakel zu verhindern.

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Das letzte Zeitzeugnis einer sportlichen Betätigung von Oscar Pistorius, ja überhaupt die letzte öffentlich gewordene Aufnahme, ist ein wackliges Handy-Video. Es stammt aus dem Jahr 2015, aufgenommen offenbar von einem anderen Häftling. Zu sehen ist der ehemalige Paralympics- und Olympia-Star, wie er im Innenhof eines Gefängnisses in Südafrikas Hauptstadt Pretoria mit dem ebenfalls verurteilten Mafia-Boss Radovan Krejcir auf seinen Prothesen einen Fußball kickt.

Der Aufschrei war groß. Pistorius, einst einer der größten Helden der für Pathos anfälligen Nation, war wenige Monate zuvor wegen tödlicher Schüsse auf seine Freundin Reeva Steenkamp zunächst nur wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden. Der entspannte Kick passte ins Bild des Prominentenbonus, der Pistorius damals unterstellt wurde.

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Prompt organisierten die Gefängnisbehörden eine Medientour, in dem auch eine karge Zelle gezeigt wurde, in der Pistorius zeitweise untergebracht war. Und bald darauf wurde das Urteil auf Totschlag und das Strafmaß auf über 13 Jahre korrigiert.

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Nun ist Pistorius, 37, am Freitagmorgen vorzeitig auf Bewährung aus der Haft entlassen worden. Der 37-jährige habe seine Haftanstalt in einem Vorort von Pretoria verlassen, erklärten die Behörden. Pistorius sei „jetzt zu Hause“. Zuvor erklärte Reeva Steenkamps Mutter June, sie akzeptiere zwar die Entscheidung des Justizsystems für Pistorius vorzeitige Haftentlassung, doch sei der Schmerz „immer noch roh und real“. „Es kann keine Gerechtigkeit geben, wenn dein geliebter Mensch niemals zurückkommt, und keine noch so lange Haftstrafe wird Reeva zurückbringen“, fuhr sie fort.

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Fast elf Jahre sind vergangen seit dem Verbrechen, das sich so sehr ins kollektive Gedächtnis der Nation gebrannt hat wie sonst wohl nur die politisch motivierten Morde an Steve Biko (1977) und Chris Hani (1993), Idole des Befreiungskampfes.

Pistorius hatte in einem live im Fernsehen übertragenen Prozess ausgesagt, er habe Steenkamp versehentlich für einen Einbrecher gehalten und deshalb auf die geschlossene Toilettentür geschossen, hinter der sich seine Partnerin befunden hatte.

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Verzweifelt versuchen die Behörden eine Wiederholung des damaligen, auch internationalen Medienspektakels zu verhindern, das die über drei Jahre anhaltende Justizschlacht begleitet hatte. Pistorius’ Entlassung soll unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. „Er wird wie andere, die auf Bewährung freigelassen werden, nach Hause gebracht, und wir geben dazu keine Details bekannt“, teilte ein Sprecher der Gefängnisbehörde auf Anfrage mit.

Als Teil der Auflagen darf der gefallene Star das Anwesen seines Onkels, auf dem er voraussichtlich leben wird, nur zu bestimmten Zeiten verlassen. Auch der Konsum von Alkohol ist ihm untersagt, die Teilnahme an einem Programm zur Vermeidung geschlechtsspezifischer Gewalt sowie an einer Therapie zur Aggressionsbewältigung sind Pflicht. Die südafrikanischen Boulevardmedien, davon ist auszugehen, werden nichts unversucht lassen, das alles detailliert zu dokumentieren.

Schon in den vergangenen Tagen berichteten die örtlichen Zeitungen ausführlich über die bevorstehende Freilassung. Der Prozess war schließlich weit mehr als eine reißerische Geschichte über das persönliche Drama des ersten an den Unterschenkeln amputierten Leichtathleten, der sich für die Olympischen Spiele 2012 in London qualifizierte. Damals wurde Pistorius so lukrativ wie kaum ein anderer in Südafrika vermarktet.

Die ganze Nation schaute gebannt zu

Die genaue Aufarbeitung des Verbrechens, die vom Schmerz zerfurchten Gesichter von Steenkamps Angehörigen, erschreckten selbst die Südafrikaner, die Realitäten wie zuletzt 27.000 Morde jährlich sonst eher verdrängen. Und die sich auf diese allgegenwärtige Gefahr mit privaten Sicherheitsdiensten, Alarmanlagen oder manchmal auch – wie Pistorius – eigenen Waffen abzuschirmen versuchen. Zumindest die, die es sich leisten können.

Der Fall warf ein Schlaglicht auf die enormen Einkommensunterschiede, das fast beispiellose Ausmaß der Gewalt gegen Frauen und die Unzulänglichkeiten der Justiz, die sich immer wieder den Vorwurf anhören muss, dass sie sich von den Anwälten gut betuchter Angeklagter aushebeln lässt.

Und auch Pistorius’ weiße Hautfarbe spielte eine Rolle, obwohl das bisweilen komplexe Miteinander der ethnischen Gruppen in dem Fall eigentlich keine zentrale Rolle spielte. Zeitungen wie „The Guardian“ stellten dennoch die Frage, wie der Fall wohl gehandhabt worden wäre, wenn der Angeklagte schwarz gewesen wäre: „Die einfache Auffassung war, dass weißer Reichtum gleichbedeutend mit dem Zugang zu höherer Gerechtigkeit ist“, schrieb das Blatt während des Prozesses.

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Fast in Vergessenheit geriet, dass der Nation eines ihrer populärsten Sportmärchen abhandengekommen war. Das mag angesichts der dramatischen Umstände banal klingen, doch der Sport war in Südafrika schon immer mehr als eine Nebensache. Während der Apartheid traf der Ausschluss der Nationalteams von internationalen Sportturnieren so manchen weißen Buren härter als die Wirtschaftssanktionen. Und der Widerstand gegen das weiße Minderheitsregime formierte sich wiederum am Rande von Fußballspielen in den Townships. Neben den Kirchen gehörten die Stadien zu den wenigen genehmigten Orten für Massenversammlungen.

Mit Einführung der Demokratie versuchte Südafrika dann über den Sport zusammenzuwachsen. Als das Land 1995 die Weltmeisterschaft im Rugby, dem populärsten Sport der weißen Minderheit, ausrichtete und auch noch gewann, überreichte Präsident Nelson Mandela dem burischen Rugby-Kapitän Francois Pienaar die Trophäe – die Nation feierte vereint. Südafrika wurde Gastgeber des Afrika-Cups im Fußball und der WM im Kricket – und schließlich der Fußball-WM 2010.

Die düsteren Seiten Südafrikas

Doch in den Jahren danach gewann das Land in seinen identitätsstiftenden Sportarten kaum noch etwas und versank im Korruptionssumpf des damaligen Präsidenten Jacob Zuma. Auch Stromnetz und Wirtschaftswachstum kollabierten. Die Geschichte von einem wie Pistorius, der als Sportler gegen alle Widerstände und Wahrscheinlichkeit triumphierte, war eine dringend nötige Erinnerung an die schon immer utopisch anmutenden Ideale der „Regenbogennation“. Wie er, hatte sie einst alle Widerstände überwunden. Im vergangenen Jahrzehnt stand Pistorius als Totschläger dann plötzlich für die düsteren Seiten Südafrikas.

Genau diese Aspekte des Falles Pistorius dürften die Medien am meisten interessieren. Seit November, als die Aussetzung von Pistorius‘ Reststrafe zur Bewährung bekannt wurde, dürften lukrative Interviewanfragen bei seiner Familie eingegangen sein – dem Vernehmen nach vor allem von britischen Fernsehsendern. Doch diese Angebote darf Pistorius zumindest bis zum Ablauf seiner Bewährungsstrafe Ende 2029 nicht annehmen: Seine Auflagen schließen Interviews kategorisch aus.

mit AFP

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